Freitag, 11. März 2011

Wallah Wallah

Für viele auf den Menschen oder seinen Beruf bezogene Bezeichnungen in Indien verwendet man angehängtes "Wallah". So ist etwa der Delhi-Wallah ein Einwohner der Hauptstadt, der Chai-Wallah der Teeverkäufer, der Rikshaw-Wallah der Rikschafahrer.

Ein einzigartiges Berufsbild ist in Mumbai anzutreffen: die Dabbah-Wallahs. Ein Dabbah, auch unter dem englischen Tiffin bekannt, ist ein kleiner Container, bestehend aus mehreren gestapelten Blechdosen, der die verschiedenen Gerichte einer Mahlzeit beinhaltet. Also etwa eine "Etage" mit Daal (Linsen), ein Curry, Reis in einer anderen Dose und natürlich ein Fach für Chappati, das typische Fladenbrot.

Der Dabbah-Wallah ist nun der derjenige, der diese Mahlzeit transportiert. Das läuft folgendermaßen ab:

Früh morgens begibt sich ein Angestellter auf den zeitraubenden Weg per Eisenbahn in sein Büro ins Zentrum von Mumbai. Die Vorortzüge sind vor allem morgens und abends derart überfüllt, dass jedes Gepäckstück nur lästig wäre. Neben der Aktentasche also auch noch das Essen mitzunehmen, käme niemandem in den Sinn und wäre zudem beim Gedränge in das Fahrzeug unnötig hinderlich.

Das Essen muss ja auch noch zubereitet werden. Damit dies nicht in der Nacht passieren muss, begibt sich die ehefrau oder wer auch sonst im Haushalt damit betraut ist, an den heimischen Herd, nachdem der Mann (meistens, es kann aber durchaus auch die beruftstätige Frau sein) das Haus verlassen hat. Inder sind pingelig, was das Essen angeht. Jede Religion, jede Kaste hat ihre eigenen Regeln und Tabus. Reinheit vielen Indern extrem wichtig, nicht auszudenken, das - etwa im Imbiss an der Ecke - ein Kastenloser bei der Zubereitung des Essens tätig war. Nein, da wird lieber auf bewährtes von eigenen Herd verzehrt.

Ist die Mahlzeit fertig, wird sie auch sogleich einem Dabbah-Wallah übergeben, der in den Vororten die Boxen einsammelt und zum Bahnhof schleppt. Dort werden die gesammelten Essenscontainer in die nunmehr weniger überfüllten Züge verladen, es gibt sogar ein eigenes Abteil dafür.

Am Bestimmungsort angekommen, einem der zenralen Bahnhöfe von Mumbai, wird das ganze ausgeladen und ein Heer von Dabbah-Wallahs macht sich daran, die Essen an die Zieladressen zu verteilen. Fahrräder, Handkarren und riesige Holzpalleten werden beladen und in Windeseile durch den chaotischen Stadtverkehr manövriert. Ein echter Knochenjob, bei dem so manches Kilo geschleppt wird und Timing alles ist.

Denn es gibt nur das eine große Ziel: pünktlich um 12:30 Uhr hat jeder Kunde sein Essen im Büro. Und zwar definitv SEIN Essen und nicht das von irgendwem. Das funktioniert faszinierender Weise, zuverlässig und seit mehr als 100 Jahren!


Um sich die ganze Aktion in ihren Ausmaßen vorstellen zu können: es gibt rund 5000 Dabbah-Wallahs, die jeden Tag bis zu 200.000 Mahlzeiten befördern. Eine gigantische logistische Leistung. Erst recht wenn man berücksichtigt, dass etwa 85% der Dabbah-Wallahs Analphabeten sind. Zur Kennzeichnung der Essensboxen wurde daher ein einfacher Code erfunden, der aus Zahlen, Buchstaben, Symbolen und Farben besteht. Dieses System macht eine exakte Zuordnung möglich, in welches Gebäude und welches Stockwerk das Essen gehört, und da landet es auch zuverlässig.

Die Dabbah-Wallahs stammen alle aus einem Dorf nahe Mumbai und üben dieses Gewerbe traditionell aus. Es gelten strenge Regeln für alle, Alkoholkonsum etwa ist tabu und ordentliche Kleidung inklusive einer weißen Nehru-Kappe ist Pflicht. Der Job wird als Gemeinschaftsaufgabe verstanden, jeder leistet seinen Teil um völlige Kundenzufriedenheit und Zuverlässigkeit zu erreichen. Teamwork par excellence, der Auftrag gelingt und jeder Mitarbeiter erhält den gleichen Anteil am Umsatz. Damit kommt ein Einkommen von etwa 5000 Rupien zustande, für indische Verhältnisse ist das nicht so schlecht.
Zwischenzeitlich wurde die Organisation der Dabbah-Wallahs zertifiziert nach ISO und erfüllt zudem, wie nur wenige High-Tech-Unternehmen, die Six Sigma Kriterien mit einer Traumbewertung für Zuverlässigkeit von 99.9999999. Das heisst, auf etwa sechs Millionen Vorgänge gibt es einen Fehler. Dabbah-Wallahs hielten sogar schon Gastvorträge an der Business School in Harvard und warfen ihren strengen Zeitplan selbst dann nicht über den Haufen, als Prinz Charles vor einigen Jahren zu Besuch kam.

Da der Service erschwinglich ist und vor allem das bevorzugte Essen liefert, ist die Konkurrenz durch Fastfood und Imbissläden in der Stadt kaum zu fürchten. Nachahmer haben offenbar auch wenig Chancen, in anderen Städten konnte sich das Geschäft nicht vergleichbar etablieren. Nur die "echten" Dabbah-Wallahs in Mumbai haben Effizienz, Teamwork und absolute Zuverlässigkeit derart verinnerlicht, dass auch zukünftig an sechs Tagen in der Woche die Bahnhöfe von Mumbai mit den markanten weißen Kappen und Palletten von Dabbahs überflutet werden.

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