Sonntag, 3. März 2013

Die alte Dame

Samstag ging es pünktlich zur letzten Zugfahrt. Ein großes Hallo entstand beim Einsteigen. Bahnsteige in der uns bekannten Form gibt es hier nicht, man muss in der Regel ein, zwei Gleise überqueren mit seinem Gepöngel und dann die zugegeben hoch liegende unterste Stufe für den steilen Einstieg erreichen. Kommod ist das nicht. Eine große französische Reisegruppe, die neben einem Paar in meinem Abteil und mir unseren sowie den angrenzenden Waggon vollständig besetzt, verzögert den Einstieg enorm wegen der komplizierten Hartschalenkofferhereinbeförderung. Ich husche schnell einen Waggon weiter in den Zug und schaffe es zu meinem Abteil, bevor der ganze Gang verstopft ist.

Solche Reisegruppen, ich glaube gleich welcher Nationalität, verströmen immer großes Palaver und eine gewisse Aufgeregtheit. Einer fängt damit an und plötzlich wollen alle frisches Bettzeug und halten den Schaffner auf Trab. Dann der Skandal: im Abteil neben mir wird eine (!) Kakerlake gesichtet, die offensichtlich dem Lüftungsgitter der Klimaanlage in der Decke entfleucht ist. Mon dieu! Jetzt tritt wilde Tatkraft in Gang, dir männlichen Abteilteilnehmer wissen Rat und versuchen, das Lüftungsgitter mit Zeitungen und Klebeband dicht zu machen. Das ist schwierig, da kommt ja Wind raus. Also muss die Klimaanlage im Waggon mehr oder weniger abgeschaltet werden (was mir ein warm-stickiges Abteil beschert, danke). Nach und nach werden dann alle von der ehemaligen Kolonialmacht besetzten Abteile insektensicher abgedichtet und man nötigt den Schaffner noch, irgend ein wahrscheinlich sehr giftiges Zeug zu versprühen. Ich erzähle denen lieber nicht, dass mir im letzten Zug eine (sehr kleine) Maus über den Weg huschte.

Männer, die auf Viecher starren: tapfere Franzosen beim Zukleben des Übels Quelle
Fast pünklich ruckeln wird nach gut zwölf Stunden in den Bahnhof von Hanoi. Dort warten bereits Taxis auf dem Bahnsteig!! Man wundert sich. Ich verlasse vorsorglich erstmal den Bahnhof und die Schlepper und winke auf der Staße den Fahrer meines Vertrauens herbei. Der findet auch zügig zur gewünschten Adresse. Das er mir bei Fahrtkosten von 28.000 und überreichten 50.000 dann 14.000 Wechselgeld zurückgeben will, verstehe wer will. Ich jedenfalls nicht früh am morgen, mittels Disput nötige ich ihn zur weiteren Wechselgeldherausgabe.

Mein Hotelzimmer steht erst ab Mittag bereit. Also lasse ich mein Gepäck schonmal dort und gehe auf Stadterkundung, ich habe erstmal sechs Stunden Zeit. Auch Sonntags erwacht die Stadt morgens um sechs mit dem Sonnenaufgang langsam zum Leben. Ich bekomme ums Eck einen Kaffee, auf winzigem Höckerchen hockend, wie man das hier eben macht. Es ist kalt! Nachdem ich tagelang vor mich hin geschwitzt habe bei feuchter Schwüle, zittere ich nun im Hemd bei 16°. Bewegung hilft, denn auch tagsüber wird es nicht so viel wärmer. Also mache ich mich auf zum Hoan Kiem See, der am Rande der Altstadt von Hanoi liegt. Dort muss man früh morgens sein! Halb Hanoi begibt sich zum Frühsport, vor allem die älteren Semester. Rund um den See trifft man auf Jogger, Gymnastik Praktizierende und Tai-Chi Gruppen zu Hauf. Zu Musik aus einem scheppernden Wiedergabegerät üben sich zudem duzende Paare am Seeunfer in Walzer und tateinamerikanischen Tänzen. Hanoi, morgens um sieben. Der Hammer! Alle sind gut drauf dabei und haben Spass an Zuschauern, das macht wirklich Freude.

Morgengymnastik am See
Sonntags um sieben steht die Welt schon mal Kopf
Vietnam Walz
Die allgemeine Touristenbelästigung durch Waren- und Dienstleistungsanbieter scheint mir nachgelassen zu haben. Vielleicht liegt es auch nur daran, dass sich die potentiellen Kunden vermehrt haben, ebenso wie der Motorradverkehr, wenn das überhaupt noch geht. Auch für Zweiräder herrscht schon Stau in der Altstadt und es gibt erhebliche Parkplatzprobleme. Mit Autos würde hier gar nichts mehr gehen.

Kreuzungs-Choreografie
Auf dem Weg durch die Altstadt erledige ich sogleich noch ein paar Einkäufe. Traditionelle buddhistische Musik ist nicht erhältlich bisher, aber ich kaufe dafür ein ppar instrumentale CDs mit vietnamesischer Musik. Und zufällig eine Komplettausgabe von "Enigma" (macher kennt es vielleicht, viele mögen's nicht) mit acht CDs und zwei DVDs im schmucken Edelschuber. Wenn das ganze ein Imitat sein sollte, dann ein verdammt gutes und die knapp 20 Euro auf jeden Fall wert. Außerdem erstehe ich eines der alten Propagandaposter, die hier neuerdings in diversen Läden feilgeboten werden und interessante Rückblicke in die vietnamesische Geschichte des 20. Jahrhunderts bieten. Um das Druckerzeugnis mit Onekl Ho knitterfrei heim zu transportieren, lasse ich mir in der Handwerkergasse ein Kunststoff-Wasserrohr zurechtsägen, das taugt optimal.

Weise ist, wer sich warm anzieht
Den Abschluss des Tages bildet ein Besuch im traditionellen Wasserpuppen-Theater. Die Vorführung hat meiner Meinug nach qualitativ nachgelassen gegenüber dem letzen Besuch dort, schön war es trotzdem. Auch ja, noch zum Titel dieses Beitrags: Hanoi sit so etwas wie die alte Dame unter den Städten Vietnams. Hier hat sich sichtlich bei weitem nicht so viel verändert wie in Saigon, alles ist etwas altmodischer und traditioneller, mir gefällt es. Man muss schon genauer hinschauen, um die Entwicklung zu sehen. Zum Beispiel ist auch hier aus dem realsozialistischen "Kaufhaus Nr. 1", wo man früher gegen harte Dollars Konsumgüter erwerben konnte, die dem Volke nicht zur Verfügung standen, mittlerweile eine marmorverkleidete Mall geworden, in der Louis Vuitton (heisst das so?) und Co. Edelgüter feilbieten. Aber das ist nur punktuelles Facelifting für die "alte Dame" Hanoi, für mich nach wie vor eine der schönsten und interessantesten Städte in Asien.

Mal schauen, was als nächstes kommt

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